Am Samstag, 8. Juni, wurden auf Initiative des Heimatvereins Langeoog e.V. am Fuße des
Wasserturms die ersten Stolpersteine der Insel in Gedenken an die jüdischstämmige Familie de Heer
verlegt, die von den Nationalsozialisten gedemütigt, entrechtet und vertrieben worden war. An der
Stelle des heutigen kleinen Parks unterhalb des Turms hatten Margarethe und Pieter de Heer das „Café
Dünenschlösschen“ und ein Milchgeschäft betrieben, später kam die Pension „Haus Dünenlust“ in der
heutigen Mittelstraße hinzu, wo sie mit ihrem Sohn Heinrich (geb. 1923) auch wohnten. Die
Verlegung der Stolpersteine übernahm der Künstler Gunter Demnig aus Berlin, auf den die Idee von
Stolpersteinen zum Andenken an Verfolgte und Ermordete des NS-Terrors auch zurückgeht. Gepflegt
werden die Steine künftig von Schülerinnen und Schüler der Inselschule.
Fast die ganze Woche stand unter dem Zeichen der Aufarbeitung nationalsozialistischen Terrors auf
Langeoog und dem Gedenken an Familie de Heer. Der Historiker Prof. Dr. Jörg Echternkamp aus
Potsdam war angereist, um in der Inselschule mit den Schülern der 9. und 10. Klasse zum Thema
zu arbeiten, im HdI hielt er wenig später einen außerordentlich gut besuchten Vortrag über die „Insel
der Volksgemeinschaft“ (Langeoog News berichtete.) Mit der Verlegung der Stolpersteine wurde jetzt
ein bleibendes und dauerhaftes Zeichen dafür gesetzt, dass sich die Langeooger und Langeooger
auch diesem Teil der Inselvergangenheit stellen und ein Zeichen setzen möchten, damit sich das
erlittene Unrecht nicht wiederholt. Maßgeblich für die Aufarbeitung der Familiengeschichte von
Margarethe, Pieter und Heinrich de Heer verantwortlich zeichnet der Architekt Christoph Lowes, der
sich seit Jahrzehnten intensiv mit der Geschichte Langeoogs befasst und mit dem Tag der Stolperstein-
Verlegung auch eine Broschüre zum Thema „de Heer“ veröffentlicht hat. Die Broschüre mit dem Titel
„Das verlorene Café – Eine vergessene Geschichte von Langeoog““ ist ab sofort im Seemannshus und
in der Inselbuchhandlung Krebs erhältlich. (Die in der Fotostrecke gezeigten historischen Aufnahmen
entstammen mit freundlicher Genehmigung dieser Broschüre.)
An einem windumtosten, regnerischen Tag hatten sich dennoch viele Menschen versammelt, um
Zeugen der Stolpersteinverlegung zu werden; darunter Mitglieder des Heimatvereins
um den 1. Vorsitzenden Erhard Nötzel, Vertreter der Inselgemeinde, zahlreiche
weitere Insulaner, aber auch Gäste. Grußworte wurden von Erhard Nötzel, Bürgermeisterin
Heike Horn, Norda Westerkamp (heutige Besitzerin des „Haus Dünenlust“) und Schulleiterin Petra
Ahrenholz gesprochen. Künstler Gunter Demnig konnte aufgrund einer Verzögerung bei der Anreise
leider nicht von Anfang an dabei sein, sodass die eigentliche Verlegung der Stolpersteine etwas
zeitversetzt erfolgen musste. Gunter Demnig selbst hielt keine Ansprache, sondern schritt in Stille zur
Tat, was die Würde und Feierlichkeit des Werkes noch unterstrich. Später stand der Künstler für
Gespräche mit Interessierten zur Verfügung.
Nach einem kurzen Einführung durch Erhard Nötzel dankte Bürgermeisterin Heike Horn in ihrem
Grußwort dem Heimatverein für die Initiative sowie allen anderen Projektbeteiligten und betonte die
Wichtigkeit der Erinnerung und Mahnung, damit sich die Vergangenheit nicht wiederhole. Im
Anschluss ließ Erhard Nötzel das Aussehen der Gegend um den Wasserturm in den 1920er/30er Jahren
durch eine lebendige Beschreibung der Bebauung bildhaft werden, sodass sich die Zuhörenden das
damalige „Café Dünenschlösschen“ mit dem angeschlossenen Geschäft für Molkereiprodukte besser
vorstellen konnten. Das Gebäude war 1940 abgerissen worden – sehr wahrscheinlich nur unter dem
Vorwand eines Bombenschadens, wie der Historiker Jörg Echternkamp belegen konnte. Zuvor war es
geplündert worden, den Bauschutt holte sich die Wehrmacht. Eine Entschädigung bekam Familie de
Heer dafür nie. Haus Dünenlust wurde 1940/41 zwangsversteigert und einer „Arierin“ übertragen —
der Ehefrau eines SS-Angehörigen. 1951 erlangten die de Heers nach aufwändigem Gerichtsprozess
die Pension zurück und zogen trotz der traumatischen Erfahrungen wieder nach Langeoog. Sohn
Heinrich blieb im niederländischen Exil. 1964 verkaufte Margarethe de Heer die Pension an die
Langeooger Familie Westerkamp. Heute wird das „Haus Dünenlust“ von Norda Westerkamp und
Frank Niemeier betrieben, die stets offen mit diesem Teil der Vergangenheit ihrer Pension umgingen
und auch die Erforschung der Familiengeschichte der de Heers intensiv förderten.
Pieter der Heer starb 1954 auf Langeoog, Margarethe de Heer 1972, beide wurden auf dem Friedhof an
der Inselkirche beerdigt. Die Gräber sind heute allerdings nicht mehr erhalten.
Familie de Heer wohnte vor dem Umzug nach Langeoog in Recklinghausen, Pieter de Heer war
gebürtiger Niederländer. Margarethe de Heer entstammte einer jüdischen Familie, war aber zum
Christentum konvertiert. Die Konversion war für die Nationalsozialisten aber wertlos, die Familie galt
nach der NS-Ideologie dennoch als „jüdisch“ und wurde entsprechend verfolgt. Vor der
Machtergreifung hatten die de Heers eine glückliche und erfolgreiche Zeit auf Langeoog, das Geschäft
und das Café liefen so gut, dass 1930 auch noch die Pension „Haus Dünenlust“ an der Mittelstraße
hinzukam. Zeitzeugen erinnern sich, dass die Familie als liebenswürdig galt, besonders Frau de
Heer wurde als sehr mütterliche Pensionswirtin beschrieben. Ihr Sohn Heinrich de Heer war beim
Umzug nach Langeoog im Grundschulalter und besuchte die Inselschule.
Nach Machtergreifung der Nazis wurde die Familie zunehmend mit antisemitischem Hass überzogen,
Hitlerjungen marodierten im Café und vergraulten die Gäste, die Konzession für
Beherbergungsbetriebe wurde entzogen. Sohn Heinrich war in der Schule täglich Qualen ausgesetzt.
Schließlich floh die Familie, wirtschaftlich ruiniert und gesellschaftlich ausgegrenzt,1938/39 in die
Niederlande nach Winschoten, wo sie eine Eisdiele eröffneten. „Dass die Familie dort unbehelligt
blieb, grenzt an ein Wunder“, ergänzt Erhard Nötzel, „denn auch Winschoten war eine Hochburg des
Nazi-Terrors“. Er hege große Bewunderung für die Treue der Familie zur Insel, trotz der großen
Demütigung, Einschüchterung, Entrechtung und vielgestaltiger Übergriffe, welche die Familie auf
Langeoog zu erleiden hatte.
Norda Westerkamp erläuterte den Anwesenden schließlich ihre persönliche Bindung zum Haus
Dünenlust, in dem sie auch ihre Kindheit verbracht hatte. Es sei immer etwas „geheimnisumwoben“
gewesen; auf Zeugnisse von Familie de Heer stieß man früh. Bis heute seien persönliche Gegenstände
der Familie in Gebrauch wie Geschirr und Küchenutensilien, auch Dokumente habe man gefunden,
aber leider keine Fotos. Dass Familie de Heer letztlich auch Gesichter bekam, verdankt man heute
Christoph Lowes. Der „Inselkenner und begeisterte Geschichtensammler“ begann 2016 mit der Arbeit
an einer ersten Broschüre über das Haus Dünenlust und betrieb dafür aufwändige Recherchen.
Letztlich wurde jedoch eine Zufallsbegegnung entscheidend dafür, dass die de Heers auch optisch
Gestalt annahmen: Während eines Urlaubs traf Lowes auf Niederländer, die aus der Nähe von
Winschoten stammten, wo Heinrich de Heer (verstorben 2006) und seine Frau Annie die Eisdiele
weiterbetrieben hatten: Eine Eisdiele, die, wie sich schnell herausstellte, überregional bekannt war und
geradezu Kultstatus genoss. Letztlich gelang es auf verschlungenen Pfaden, Kontakt zu Annie de Heer
aufzunehmen, die Christoph Lowes als „offen und lebenslustig beschrieb“. Mehrere Besuche folgten,
bis Annie de Heer 2022 starb. Sie überließ Christoph Lowes zahlreiche Fotoalben, mit denen die heute
neu aufgelegte und aktualisierte Broschüre endlich auch umfangreich bebildert werden konnte.
Vorwort und Einführung dazu schrieben Erhard Nötzel und Prof. Dr. Echternkamp. Norda
Westerkamp, die Annie de Heer ebenfalls besucht hatte, beschrieb die Begegnungen als sehr
bewegend; ihr sei es ein Herzensanliegen, an die Familie zu erinnern und ihre Lebensleistung zu
würdigen. Vor dem „Haus Dünenlust“ wird künftig eine Tafel an die de Heers erinnern — gleich jener,
die Erhard Nötzel am Ende der Veranstaltung auch vor den Stolpersteinen enthüllte: Abgedeckt von
einem Tischtuch aus dem Hausrat von Familie de Heer. „Wir können nichts wiedergutmachen“,
schloss Norda Westerkamp, „aber wir können die Geschichte weitererzählen: Zum Gedenken und zur
Mahnung.“
Zunächst aber sprach Schulleiterin Peta Ahrenholz und übergab Erhard Nötzel feierlich eine
Kooperationsvereinbarung zur Pflege der Stolpersteine durch die Schüler der
Inselschule. Eine genaue Anweisung dazu hatten sie von Gunter Demnig erhalten. Dadurch soll das
Gedenken an die Familie – wie auch an alle anderen durch den NS-Terror Verfolgten, entrechteten und
ermordeten Menschen – lebendig und in würdevollen Ehren gehalten werden. „Es ist wichtiger denn
je!“, begann die Schulleiterin ihre engagierte Rede, denn „die täglichen Nachrichten“ machten sie
„täglich fassungsloser“ und bezog sich auf die rassistischen Ausfälle und den weltweit erstarkenden
Antisemitismus der jüngsten Zeit. Man mache sich mitschuldig durch Ignoranz und „Nicht-wissen-
wollen“, weshalb ihr die Wissensvermittlung und das „aktive Gedenken“ an der Inselschule extrem
wichtig sei: „Ich hoffe, dass wir an unserer kleinen Inselschule die richtigen Weichen stellen.“ Als
großen Vorteil des Lebens in einer Demokratie sehe sie die Möglichkeit „an Informationen zu
gelangen“ – die Menschen in autoritären Systemen nicht haben. Das wolle sie nutzen und zugleich
„Grundwerte wie Empathie und Menschlichkeit“ vermitteln, damit die „Botschaft ’nie wieder‘ kein
leeres Versprechen bleibt“.
Erhard Nötzel dankte am Ende der Veranstaltung noch dem Lions Club Gräfin Anna für eine
großzügige Spende an den Heimatverein.
Mit der Enthüllung der Gedenktafel wurde eine Schweigeminute zur Erinnerung an Familie de Heer
und weitere Opfer des Faschismus eingehalten. Einige Personen legten mitgebrachte Blumen nieder,
darunter einen Strauß weißer Rosen: Symbol des Widerstands.

LangeoogNews am 10.06.2024 von Mayk Opiolla

Stolpersteine erinnern an Familie de Heer

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